Marie S. Ueltzen
Brandtschutz/Wahnschild

Volker Schwennen

Wer das bisherige Werk von Marie S. Ueltzen kennt, stellt schnell fest, dass es ihr schon immer um die kleinen Geschichten am Rande geht, die für einen einzelnen Menschen so wichtig sein können, aber keine direkte Auswirkung im Äußeren haben. Gleich vorab: Die Arbeit „Brandtschutz / Wahnschild“ besteht aus einem Wort (Brandtschutz), welches auf einen fast vier Meter langen und fast ein Meter breiten Jutestoff mit schwarzer Wolle gestickt wurde. Es hat eine rote, ebenfalls gestickte Umrandung. Die restliche Fläche ist mit einem beigefarbenen oder eher schmutzigen Weiß ausgemalt. Die Buchstaben sind der gängigen Schrift von Warnschildern entlehnt, ebenso entspricht die Optik einem typischen Warnschild, welches wir an zahlreichen Orten finden können, allerdings eher selten, wenn überhaupt, in dieser Dimension. Marie S. Ueltzen überhöht also die Warnung, macht diese noch sichtbarer.

Vielleicht erst auf den zweiten Blick entdecken wir ein entscheidendes Detail, denn das uns bekannte Wort „Brandschutz“ erhielt mittig einen weiteren Buchstaben, ein „T“. Wir lesen also „Brandt“ und die mögliche Assoziation, dass es sich hier um den ehemaligen deutschen Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt handeln könnte, liegt nahe. Und dies ist auch der wichtigste Hinweis, sich in diese Arbeit zu vertiefen. Ganz abgesehen von einer erstmal ironischen Note, dass der Berliner Großtstadtflughafen BER den Namen „Willy-Brandt-Airport“ führt, dessen Adresse „Willy-Brandt-Platz“ in Schöneberg ist, und dessen Eröffnung über viele Jahre verschoben werden musste, weil es Probleme mit dem Brandschutz gab, verstärkt den Verweis auf die Person Willy Brandt.

Und tatsächlich hat sich Marie S. Ueltzen mit dem Menschen Brandt ebenso intensiv beschäftigt wie mit Worten, die uns einen gewissen Schutz suggerieren. So gibt es eine vorangegangene Arbeit von 2019, welche sie für das Randlage Artfestival1 erstellt hat: „Katastrophenschutz“2. Auch hier sind es nur Buchstaben, welche auf einen 3 Meter langen Jutebanner gestickt wurden, allerdings nicht deutlich, eher verschwommen, nicht sofort leserlich. Der Name Katastrophenschutz3 suggeriert zunächst Schutz vor einer Katastrophe, allerdings tritt der Katastrophenschutz erst dann auf, wenn bereits der Schadenfall, die Katastrophe, eingetreten ist und die Kräfte „normaler“ Rettungsdienste nicht mehr ausreichen. Die Aufgaben des Katastrophenschutzes sind heute zwar vielfältiger als in der Anfangszeit, hier bietet er einen tatsächlichen Schutz, wenn zum Beispiel präventiv eine Warnung vor einem Taifun ausgesprochen werden muss und Menschen vor Eintritt der Katastrophe in Sicherheit gebracht werden können. Allerdings wird die Katastrophe, also die Zerstörung von Häusern beispielsweise nicht unbedingt zu verhindern sein.

Eine weitere, bereits viele Jahre zurückliegende Arbeit war Teil der Serie „Erstickungen“ und ist betitelt mit „Santa Medusa – Schutzheilige der Dauerndgetrenntlebenden“. Immer wieder beschäftigt sich Marie S. Ueltzen mit diesen Schutzheiligen, die von Menschen zu solchen gemacht wurden. Warum? Wofür? Wieso brauchen wir „Heilige Menschen“, wieso Schutzheilige? Immer wieder stellt sie sich diese Fragen.

In der Arbeit „Brandtschutz/Wahnschild“ blickt Marie S. Ueltzen tief in die Psyche eines Menschen, den sie nie persönlich kennengelernt hat, über den sie aus Büchern und Artikeln etwas erfahren konnte. Und von Menschen, die Willy Brandt persönlich kannten, mit ihm zusammengearbeitet haben. Sie trägt all die Anekdoten und Geschichten zusammen und baut sich ihr eigenes Bild von diesem Menschen zusammen. Das Kind, welches unehelich unter dem Namen Herbert Frahm aufwuchs, oft von einer Haushälterin betreut wurde, mit einer Mutter, die er nur als „die Frau, die meine Mutter war“4 und als kalt bezeichnete. Mit fünf Jahren wechselte er in den Haushalt seines Stiefgroßvaters Herbert Frahm, den er selbst als Vater bezeichnete. Seine Mutter sah er seitdem kaum mehr und bezeichnete seine Kindheit als „unbehaust“ und chaotisch. Früh betätigte er sich in politischen Organisationen und arbeitete journalistisch. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten baute er in Oslo die Zelle einer Widerstandsgruppe auf und nahm dort den „Kampfnamen“ Willy Brandt auf, den er zeitlebens behalten sollte. Er emigrierte von Dänemark nach Norwegen, wurde in Deutschland ausgebürgert, geriet nach der Besetzung Norwegens während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft, da er eine norwegische Uniform trug, wurde jedoch entlassen und floh daraufhin nach Schweden.

Nach dem Krieg kam er als Korrespondent skandinavischer Zeitungen wieder nach Deutschland, erhielt irgendwann die deutsche Staatsbürgerschaft zurück, engagierte sich in der Politik, wurde Regierender Bürgermeister von Berlin, erhielt nationale und internationale Anerkennung während der zweiten Berlin-Krise und des Mauerbaus, wurde für seinen markigen Spruch „Berlin bleibt frei!“ gefeiert. Er fand in dem US-Präsidenten Kennedy einen „Geistesverwandten“ und nahm wegen seines Kontaktes zu ihm eine bedeutende Rolle in der Bundesrepublik ein. Während des Wahlkampfs sah er sich oft Diffamierungen wegen seiner Unehelichkeit oder seiner Zeit im Ausland ausgesetzt. Dennoch schaffte er es, irgendwann Bundeskanzler zu werden. Brandt war beliebt in der Bevölkerung und steht heute als wichtigste Persönlichkeit für eine Entspannungspolitik mit dem Osten und dem Ende des Kalten Krieges.

Er war groß in symbolkräftigen Auftritten (Kniefall von Warschau) und erhielt den Friedensnobelpreis. Je größer er in der Welt dastand, umso einsamer wurde es um ihn herum, um den Menschen Willy Brandt. Von den eigenen Parteigenossen wurde er hintergangen und in Verruf gebracht, sein Partei-Vize Herbert Wehner griff ihn mit den Worten an: „Der Kanzler badet gern lau – so in einem Schaumbad“5. Kaum jemand wusste von Willy Brandts Depressionen, die ihn manchmal tagelang von der politischen Bildfläche verschwinden ließen.



Quellennachweise

1) Volker Schwennen: LEBE DEIN AENDERN, Randlage Artfestival 2019, Positionen aktueller Kunst“, Wohlfein edition Verlag, 2019, ISBN 978-3-980-755-4-2, S. 73

2) Marie S. Ueltzen, Katastrophenschutz, 2019, Stickerei mit Viscose-Metallic-Garn, Acryl, Jute, 94x240cm, Im Besitz der Sammlung Kommer.

3) „Der Katastrophenschutz kommt immer dann zum Einsatz, wenn die Schadenlage so groß wird, dass die Kräfte des „normalen“ Regelrettungsdienstes und der Feuerwehr nicht ausreichen, um den eingetretenen Schaden oder drohende Gefahren zu bekämpfen.“ https://www.asb.de/unsere-angebote/asb-rettungsdienst-katastrophenschutz/katastrophenschutz – abgerufen 18.05.21.

4) Hans-Joachim Noack: Willy Brandt. Ein Leben, ein Jahrhundert. Rowohlt Verlag, Berlin, 2013. S. 18, 20f.

5) ebenda

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